5. Herbstakademie "Selbstorganisation in Psychologie und Sozialwissenschaften"

Friedrich-Schiller-Universität Jena, 25. bis 27. September 1995

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Tagungsbericht


"Wie entstehen Strukturen in sozialen Systemen? Wie lassen sie sich beschreiben?" Mit diesen Fragen beschäftigten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der 5. Herbstakademie zum Thema "Selbstorganisation in Psychologie und Sozialwissenschaften", die vom 25. bis zum 27. September an der FSU Jena stattfand. Die Herbstakademie wurde veranstaltet von Prof. Dr. E.J. Brunner, Lehrstuhl für pädagogische Psychologie des Instituts für Erziehungswissenschaften der FSU Jena, PD Dr. G. Schiepek, Universität Muenster, und Dr. W. Tschacher, Universität Bern, in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hermann Haken, Universität Stuttgart. In vielen Vorträgen zu verschiedenen Themengebieten der Psychologie und Sozialwissenschaften wurde der Frage nachgegangen, wie sich Konzepte und Modelle der Synergetik zur Beschreibung sozialer Ordnungsstrukturen verwenden lassen. Die einzelnen inhaltlichen Themen reichten von sozialwissenschaftlichen Fragestellungen, wie z.B. die Bedeutung von Alltagsritualen für Interaktionsprozesse, über physiologisch-biologische Fragestellungen (z.B. die Analyse von EEG-Daten bei chronischen Schmerzpatienten) bis hin zu psychotherapeutischen Fragestellungen (z.B. die Veränderung der Therapeut-Klient-Interaktion im Verlauf einer Psychotherapie).

Höhepunkt der Tagung war der Festvortrag von Professor Haken zum Thema "Synergetik - Von der Physik zu den Sozialwissenschaften", der universitätsöffentlich am Dienstagabend in der Aula der Universität stattfand. Professor Haken erläuterte zunächst anhand physikalischer Beispiele die Kernkonzepte der von ihm entwickelten Synergetik und zeigte anschliessend Anwendungsmöglichkeiten dieser Konzepte im Hinblick auf inhaltliche Fragestellungen der allgemeinen Psychologie, z.B. Mustererkennungsprozesse und Entscheidungsfindung, auf. "Synergetik" bedeutet zu deutsch "Lehre vom Zusammenwirken". Der Ansatz beschreibt, wie aufgrund der Wechselwirkung der Teilkomponenten eines komplexen Systems übergeordnete Ordnungsstrukturen entstehen können, die wiederum das Verhalten der einzelnen Teilkomponenten beeinflussen. Die Ordnungsstruktur hängt also einerseits vom Verhalten der einzelnen Komponenten ab, entsteht quasi erst durch die Wechselwirkung zwischen den Komponenten. Andererseits wirkt sie jedoch auch auf das Verhalten der Teilkomponenten zurück und wird für deren Verhalten bestimmend. Dieses Phänomen wird als "zirkuläre Kausalität" bezeichnet. Ein bekanntes Beispiel aus der Physik ist die von Professor Haken entwickelte Lasertheorie.

Die Uebertragung der Konzepte auf soziale Phänomene erscheint auf der metaphorischen Ebene betrachtet durchaus plausibel. Man denke hier etwa an eigene Erfahrungen im Bezug auf Gruppenprozesse: Z.B. die in einer Gruppe vorherrschende Meinung hängt von der Meinung der einzelnen Gruppenmitglieder bzw. von den Interaktionsprozessen zwischen den Gruppenmitgliedern ab; die "Gruppenmeinung" ihrerseits wirkt aber auch auf die Meinungen bzw. Einstellungen der einzelnen Gruppenmitglieder zurück. An diesem Beispiel wird das Phänomen der zirkulären Kausalität intuitiv plausibel. Probleme ergeben sich jedoch bei der konkreten Umsetzung der Konzepte in sozialwissenschaftliche Forschung. Diesen Problemen widmeten sich die TeilnehmerInnen der Herbstakademie in einem eigenen, methodisch orientierten Themenblock. Wie die teilweise kontrovers geführten Diskussionen zeigten, sind hier sowohl auf einer konzeptuellen Ebene als auch auf der Ebene der konkreten empirischen Ueberprüfung synergetischer Modelle noch viele offene Fragen zu klären.


Ute Suhl
Lehrstuhl für Pädagogische Psychologie
Friedrich-Schiller-Universität
Postfach
D-07740 Jena

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