Vierte Herbstakademie
Tagung für Selbstorganisation in Psychologie und Psychiatrie
Universität Münster vom 4. bis 7. Oktober 1994
Tagungsbericht
Vom 4. bis zum 7. Oktober 1994 fand am Institut für Klinische
Psychologie der Universität Münster die vierte Herbstakademie
statt. Seit ihrem Beginn im Jahre 1990 - damals an der Universität
Bamberg - haben sich die Herbstakademien als führende interdisziplinäre
Tagungsreihen für Selbstorganisationsforschung, Synergetik und
Chaostheorie in psychologischen und psychiatrischen Anwendungsfeldern
etabliert. Veranstalter dieser Tagungsreihe sind Günter Schiepek,
Wolfgang Tschacher und Ewald J. Brunner in Zusammenarbeit mit
Hermann Haken, dem Begründer der Synergetik.
Das Gebiet der psychologischen Selbstorganisationsforschung hatte
in den letzten Jahren ganz besonders Methodikern, Methodikerinnen,
Theoretikern und Theoretikerinnen faszinierende Möglichkeiten
geboten. Die Entwicklung einer Vielzahl mathematischer Methoden
zur nichtlinearen Zeitreihenanalyse sowie zur Simulation psychologischer
und psychiatrischcr Phänomenbereiche ging sprunghaft voran. Psychologische
Modelle wurden in der Sprache und mit den Formalismen von Systemtheorien
konzeptualisiert (z.B. der Synergetik nach Haken, der Theorie
nichtlinearer dynamischer Systeme oder der Theorie neuronaler
Netze). Der Pioniergeist der ersten Analyseverfahrcn, der ersten
Simulationen, der ersten synergetisch formulierten Theorieelemente
war und ist immer noch fruchtbar. Zweifellos ist es gerade diese
Aufbruchstimmung, die den Herbstakademien ihren besonderen Reiz
verleiht. Aber es zeigt sich auch, vor allem im letzten Jahr auf
der dritten Herbstakademie in Bern, dass neben die reine Begeisterung
für das Neue nach und nach eine selbstkritische Diskussion tritt.
Fragen nach der Angemessenheit der Methoden und Theorien für Bereiche
der Psychologie und Psychiatrie sowie nach ihrer klinisch-praktischen
Relevanz tauchen auf. Diese Diskussion zu führen war nicht zuletzt
ein besonderes Anliegen der klinischen Praktiker und Praktikerinnen
gewesen, die bei allen Methodenfortschritten eine zunehmende Praxisferne
bemerkten. Die Konzeption der Münsteraner Herbstakademie trug
diesen Reaktionen Rechnung. Neben der Möglichkeit, laufende Forschungsarbeiten
und neue Konzepte vorzustellen, waren die Referenten und Referentinnen
gebeten worden, zu zwei Themenblöcken Stellung zu nehmen. Der
eine Themenblock stellte die Fragen nach der Angemessenheit der
aus der Physik und Mathematik stammenden Theoriekerne (Stegmüller)
und Methoden für psychologische und psychiatrische Phänomenbereiche.
Der zweite Themenblock thematisierte das Verhältnis von Theorie
und Praxis. Beide Themenblocke mündeten in jeweils sehr fruchtbare
Podiumsdiskussionen (geleitet von Uwe Mortensen und Kurt Ludewig).
Als angemessene Methoden auf dem Gebiet der nichtlinearen Datenanalyse
wurden vor allem solche Verfahren diskutiert, welche der Nichtstationarität
psychologischer Prozesse (z.B. in der Psychotherapie) Rechnung
tragen. Weiterhin wurde auf die Notwendigkeit hingewiesen, Aussagen
über den chaotischen Charakter von Zeitreihen gegen mögliche Alternativen
zu testen. Hierfür stehen zum Beispiel Methoden zur Testung gegen
Surrogatdatensätze zur Verfügung. (Diese sind künstlich erzeugte
Daten, die bei gleichem Mittelwert und gleicher Varianz eben nicht
von chaotischen sondem von linearen, periodischen oder stochastischen
Prozessen erzeugt wurden.) Aktuelles Interesse fand übrigens die
Frage der Vorhersehbarkeit chaotischer Dynamik sowie das Problem
der Chaossteuerung (ein neues Modell für die Psychotherapie?).
Dauerbrenner waren weiterhin die Anwendungen in der Schizophrenieforschung
- wozu es spannende Vorträge gab - sowie im Management- und OE-Bereich.
Synergetik präsentiert sich als "Vehikel und Versprechen", nicht
nur für neue Methoden der Datenanalyse. Synergetik will mehr und
transportiert mehr. Dies behauptete der Eröffnungsvortrag, dies
zeigte sich in den Diskussionen und trat in zahlreichen Vorträgen
aus den verschiedenen Bereichen der Psychologie und Psychiatrie
hervor.
Ein weiteres wurde unmittelbar erfahrbar: Die interdisziplinäre
Gemeinde eint eine gemeinsame Sprache. Die Theorien der Selbstorganisationsforschung
schaffen einen Kommunikationsrahmen für Wahrnehmungspsychologen
und -psychologinnen, Kognitionsforscher und -forscherinnen, Gruppenforscher
und -forscherinnen, klinische Praktiker und Praktikerinnen, Psychotherapie-Prozessforscher
und -forscherinnen, Organisationsentwickler und -entwicklerinnen,
Mediziner und Medizinerinnen, Physiker und Physikerinnen, Biologen
und Biologinnen und andere mehr. Synergieerlebnisse ("Das kenne
ich in meinem Arbeitsfeld ähnlich") führten zu einem regen Austausch
in den Diskussionsrunden und erst recht an den Abenden beim gemütlichen
Bier. Gewarnt wurde jedoch vor einer Inflation der einschlägigen
Begriffe, die leicht zu einer nichtssagenden Metaphorik verkämen.
Schliesslich sei man sich ja auch ohne ständige Betonung einig
darüber, dass alles selbstorganisiert sei, wenn man es nur so
sehen wolle. Im übrigen wurde von zahlreichen Teilnehmern und
Teilnehmerinnen der metaphorische und heuristische Wert synergetischer
und chaostheoretischer Modellvorstellungen durchaus hoch eingeschätzt.
Der Wert der Synergetik zeige sich aber nicht nur in einer neuen,
fächerübergreifenden Verständigung und nicht nur in nichtlinearen
Analyseverfahren sowie Computersimulationen. Jeder wissenschaftliche
Ansatz - so auch dieser - enthalte kulturelle, ethische und politische
Implikationen.
Zu einer spannenden Diskussion kam es vor allem im Bereich der
Ethik. Verknüpft man die Ethikfrage mit der Frage nach der Methodenangemessenheit,
so gelangt man zu einer einfachen Relation: Je angemessener eine
Forschungsmethode der psychischen und sozialen Wirklichkelt des
Menschen begegnet, um so "ethischer" ist sie. Unter diesem Aspekt
wurde die Abkehr vom Test-Retest-Konzept hin zur prozessorientierten
Forschung sowie die Abkehr von Krankheitsetiketten im Sinne klassischer
Diagnoseschemata zugunsten einer systemischen Betrachtung innerer
und äusserer Systemzusammenhänge betont. Vorknüpft man die Ethikfrage
jedoch mit der Frage der Praxisrelevanz von Forschung, so gelangt
man zu dem alten Dilemma, nämlich dem des "dual use". Praktisch
anwendbare Forschungsergebnisse können immer so und ganz anders
genutzt werden. Dieser Sachverhalt führt zu einer kontroversen
Diskussion über die Wertfreiheit wissenschaftlicher Ergebnisse.
Es zeigte sich, dass auch eine "ethische" Forschungsmethode nicht
davon entlasten kann, über den "dual use" ihrer Forschungsergebnisse
nachzudenken. Forschung scheint nur so lange wertfrei, als sie
im Elfenbeinturm bleibt. Will sie praktisch relevant werden, kann
eine fehlende ethische Position zu einem "Werturteilsvakuum" führen,
das dann von anderen gefüllt wird. Gerade psychologische Forschung
jedoch dürfe sich eine Werturteilsfreiheit nicht erlauben.
Diese Bruchstücke aus Diskussionen und Vorträgen können natürlich
nur einen minimalen Ausschnitt von dieser vierten Herbstakademie
beleuchten. Die Wirklichkeit ist immer reichhaltiger, gerade in
diesem blühenden Feld, das sich in Münster in einer sehr anregenden
Atmosphäre präsentiert hat.
Die nächste Herbstakademie, dann die fünfte, wird im September
1995 an der Universität Jena stattfinden.
Guido Strunk
Helmholtzweg 37
D-48159 Münster
Erschienen in: G. Strunk (1994). Systeme, 8, S. 74-76.
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