Die Theorie der Selbstorganisation
und ihre Anwendung in der Psychologie

Forschungsbericht 00-2

Nina Jacobshagen

Zusammenfassung

Systemtheoretische Ansätze wie die Selbstorganisationstheorie, die Theorie nichtlinearer dyna-mischer Systeme oder die Theorie neuronaler Netze haben sich als von grossem metaphorischen und heuristischen Wert für die verschiedenen psychologischen Subdisziplinen erwiesen. Indem sie eine Vielzahl an theoretischen Forschungsarbeiten angeregt haben und ihre Integration auch zunehmend empirische Gestalt angenommen hat, haben sie ihren Stellenwert in der wissenschaftlichen Psychologie vor allem in den letzten Jahren ausbauen können. Psychologische Modelle der Wahrnehmungspsychologie, der Kognitionsforschung, der Forschung zu interpersonalen Systemen, der klinischen Psychologie und der Psychotherapieforschung wurden in der Sprache der Systemtheorien (re-) konzeptualisiert. Zeitgleich wurde eine grosse Anzahl statistischer Methoden zur nichtlinearen Zeitreihenanalyse und zur Simulation psychologischer und psychiatrischer Phänomene entwickelt. Zu den psychologischen Phänomenen, die die systemtheoretischen Forschungsprogramme besser, zumindest aber anders als das herkömmliche experimentelle Querschnittsparadigma zu erklären versuchen, zählen die (Gestalt-) Wahrnehmung, die Konstruktion von Sinn und Bedeutung, die Entstehung von affektiv-kognitiven Strukturen, die Funktionsweise des Gehirns, die Entwicklung von Strukturen in der zwischenmenschlichen Kommunikation, Erinnerungs- und Rekonstruktionsprozesse im sozialen Kontext sowie psychische Störungen und deren Behandlung.

Insbesondere die von Hermann Haken begründete Synergetik oder "Lehre vom Zusammenwirken" gilt aufgrund ihres integrativen interdisziplinären Charakters als ein für die Psychologie fruchtbarer systemtheoretischer Ansatz. Die Synergetik stellt eine Theorie der Selbstorganisation komplexer Systeme bereit: Mit ihren Modellen lassen sich das spontane Entstehen und Verändern von Ordnungsmustern in komplexen, offenen, dynamischen und nichtlinearen Systemen erklären. Systeme sind komplex, wenn sie aus vielen sich wechselseitig beeinflussenden Komponenten bestehen; offen, wenn sie in eine Umwelt integriert sind, die auf sie einwirkt und auf die sie selbst einwirken; dynamisch, wenn sie sich verändern können, und nichtlinear, wenn sie sich nicht additiv aus ihren einzelnen Eigenschaften zusammensetzen, sondern ‚übersummativ‘ sind. Nichtlinear heisst hier: wenn aus dem Zusammenwirken der Systemkomponenten qualitativ neue Eigenschaften bzw. Ordnungszustände hervorgehen. Die neuen Ordnungszustände wirken im Sinne einer zirkulären Kausalität oder Rekursivität wiederum auf das System zurück. Es liegt nahe, die Theorie der Selbstorganisation auf psychologische Phänomene und Probleme anzuwenden: dem ‚System Mensch‘ bzw. einem als System konzipierbaren psychologischen Sachverhalt können eben diese Attribute zugeschrieben werden.

Nach einer ausführlichen Darstellung der Selbstorganisationstheorie werden ihre Gemeinsamkeiten mit der Gestaltpsychologie hervorgehoben. Das Ziel der Gestaltpsychologie lag in der Erklärung von Phänomenen der Ordnung und der Ordnungsbildung: Wahrnehmung wurde als ein dynamischer Ordnungsbildungsprozess aufgefasst. Wie die Selbstorganisationstheorie auf die Gestaltwahrnehmung angewendet werden kann, wird beispielhaft dargestellt. Die ähnlichkeiten zwischen der Theorie der Selbstorganisation und der Gestaltpsychologie führten zu der Entwicklung des Konzepts der Prozessgestalten von Tschacher (1997), das als eine Synthese aus beiden Forschungsansätzen bezeichnet werden kann. Kerngedanke der Prozessgestalten ist, dass die Zeitlichkeit psychologischer Sachverhalte wesentliche Informationen über diese Sachverhalte enthält. Sie bezeichnet einen makroskopischen Prozess, der in einem komplexen psychologischen System durch spontane, selbstorganisierte Musterbildung entstanden ist. Es folgt eine Darstellung der Methoden, die bislang zur Untersuchung der nichtlinearen Dynamik in kognitiven Systemen Anwendung fanden wie etwa das Bartlett-Szenario, Zeitreihenanalysen und Zustandsraummodellierungen, synergetische Computer oder die Methode des EEG im Rahmen neurophysiologischer Untersuchungen. Abschliessend werden einige Punkte zum Konzept der Selbstorganisation und seiner Anwendung in der Psychologie diskutiert.


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eMail: jacobshagen@spk.unibe.ch

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