Info Embodiment Tsch, 23.5.08


Storch M, Cantieni B, Hüther G und Tschacher W (2006). Embodiment. Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen. Bern, Verlag Hans Huber.

Aus den "Vorbemerkungen" zum Embodiment-Buch:

Dieses Buch ist ein Wagnis. Fachpersonen aus vier verschiedenen Disziplinen haben sich zusammengefunden, um ihr Wissen in einem transdisziplinären Projekt zu vereinen. Kooperationspartner sind die Kognitionswissenschaften, die Psychologie, die Neurobiologie und die Körperarbeit. Jede Disziplin ist vertreten durch eine oder einen der Autorinnen und Autoren dieses Buches. Und wir vier haben uns bemüht, unsere Fachbegriffe in die terminologischen Welten der jeweils anderen Welten zu übersetzen, sie gegenseitig zu erklären, zu vereinfachen und abzugleichen.

Das war kein leichtes Unterfangen, aber gewagt haben wir es trotzdem. Und der Mut zu diesem Wagnis entsprang nicht nur dem Verstand, sondern vor allem den Gefühlen, und damit auch dem Körper – denn der Körper ist die Bühne der Gefühle (und des Verstands auch, aber davon später mehr). Vereint hat uns alle vier die Empörung und der Zorn. Hinzu kamen die Freude am Aufbruch, die Neugier auf Entdeckungen und der Wunsch nach einem umfassenderen Verständnis. In diese Verfassung waren wir alle vier auf ganz verschiedenen Entwicklungswegen über viele Jahre hinweg hineingeraten.

Der Grund für unsere energiegeladene Gefühlsmischung war die Tatsache, dass der Körper im öffentlichen Bewusstsein nicht den Stellenwert hat, der ihm zukommt, sowie der Wunsch nach einer verbindenden Vision in der Humanwissenschaft. In der akademischen Psychologie zum Beispiel wurde der Mensch lange Zeit als Reiz-Reaktionsmaschine behandelt. Nur langsam kam es zu Nachbesserungen an dieser Minimaltheorie: Dank der „kognitiven Wende“ wurde das Denken irgendwann wieder Gegenstand der wissenschaftlichen Psychologie. Später fand dann noch eine „affektive Revolution“ statt und von da an durfte der Mensch auch Gefühle haben, wenn er Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen werden wollte. Die Hirnforschung erweist sich in jüngster Zeit als segensreich für die Psychologie, weil sie die tiefenpsychologischen Ansätze mit der Vorstellung von unbewusst wirksamen Antriebskräften hoffähig macht für die universitäre Welt. Was jedoch nach wie vor in der Psychologie weitgehend als terra incognita gehandelt wird, ist der Körper und seine Rolle als Mitgestalter von psychischen Prozessen!

Bis auf wenige Ausnahmen, die in diesem Buch entsprechend ausführlich zur Sprache kommen werden, hat der Mensch als Gegenstand der akademisch-wissenschaftlichen Psychologie in der heutigen Zeit keinen Körper. Er verfügt über Denkprozesse, Intelligenz und Informationsverarbeitungskapazität. Ihm widerfahren Affekte, Emotionen und Stimmungen. Er hat sogar unbewusste Motivlagen und Bedürfnisse – aber einen Körper hat er nicht.

(...)

Die Empörung über diese Sachlage war es, die uns vier zusammenbrachte. Das Faszinierende an unseren Treffen, die sich teilweise über viele Jahre hinweg entwickelt haben, war die Tatsache, dass wir immer wieder auf Gemeinsamkeiten gestossen sind, obwohl wir uns dem Thema Körper aus völlig verschiedenen Perspektiven genähert haben. Und irgendwann verkörperte sich die Idee in uns allen, dass wir versuchen könnten, unser Wissen zu bündeln und ein Buch über das Thema „Embodiment“ zu schreiben. Obwohl wir alle vier in unserem Sprachgebrauch eigentlich lieber auf Anglizismen verzichten, wenn es nicht unbedingt nötig ist, haben wir uns entschieden in diesem Fall doch das englische Wort zu benutzen, weil sich auf der Basis des Begriffs „Embodiment“ eine neue, viel versprechende wissenschaftliche Gemeinschaft zu bilden beginnt. Wir wollten mit unserem Buch ebenfalls einen Beitrag dazu leisten, dass die Perspektive auf den Körper und seine Wirkung auf das menschliche Denken, Fühlen und Handeln vermehrt in den Blickwinkel rückt, sei es im privaten, alltäglichen Umgang mit sich selbst, sei es als Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. 

Die Embodiment-Perspektive wurde nicht von uns erfunden, sie bahnt sich seit einiger Zeit an. Wolfgang Tschacher wird erklären, wie es dazu kam. Sie ist jedoch – so unsere Ansicht – noch bei weitem zu wenig beachtet. Sie ist so wichtig, gerade für die Psychologie und für diejenigen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, die ihre Arbeit auf eine wissenschaftlich seriöse Basis stellen wollen, dass sich die gesamte Einschätzung der Körperarbeit grundlegend ändern muss. Jede Fachperson, die Menschen berät, therapiert oder erforscht, ohne den Körper mit einzubeziehen, sollte eine Erklärung für dieses Manko abgeben müssen. Maja Storch wird in ihrem Kapitel zeigen, welche beträchtlichen Konsequenzen für viele Aspekte des psychischen Geschehens die Embodiment-Perspektive mit sich bringt. Gerald Hüther fragt sich als Hirnforscher, ob man die Arbeitsweise unseres Gehirns jemals wird verstehen können, wenn man es weiterhin losgelöst vom Körper betrachtet. Sicher ist es bisweilen notwendig, dass man einen Untersuchungsgegenstand präzise abgrenzt und in seine Teile zerlegt. Aber Ziel muss es dabei immer bleiben, die Einzelteile auch wieder zu etwas Ganzem zusammenzufügen. Benita Cantieni schliesslich bietet die anatomische Anleitung für eine aufgerichtete Körperhaltung an, die Energie freisetzt, statt Energie zu verbrauchen, eine Haltung, die alles intensiviert – das Denken, das Fühlen, das Wahrnehmen mit allen Sinnen. 

Ein Punkt, der uns viel Überlegung gekostet hat, war der Umgang mit den verschiedenen Begrifflichkeiten; ein normales aber zeitraubendes Problem bei transdisziplinären Unterfangen. Wenn ein Hirnforscher von Repräsentanzen spricht, meint er dann damit dasselbe, wie eine Psychologin, die von Repräsentationen spricht? Was verstehen wir unter Geist? Wie verwenden wir den Begriff des Körpers? Streng genommen ist das Gehirn ja auch ein Körperteil, wie führt man dann begrifflich die Unterscheidung ein zwischen den zentralnervösen Prozessen und den Vorgängen im skeletomuskulären System? Was machen wir mit den verschiedenen Fachbegriffen für all die Muskeln, die Benita Cantieni beschreiben muss, um ihre Anleitung für den aufrechten Stand zu verfassen? Wie detailliert beschreibt Wolfgang Tschacher die Theorie selbstorganisierender Systeme? Wir haben diese terminologischen Probleme dadurch gelöst, dass wir ein Glossar erstellt haben, in dem die wichtigsten Fachbegriffe erklärt sind. Auch wenn wir selbstverständlich nicht in der Lage sind, eine Lösung für das Leib-Seele-Problem zu liefern, so können wir uns doch bemühen, die von uns verwandten Begriffe präzise zu definieren. Nur so kann jemand, der anderer Meinung ist, klar sehen, worauf unsere Argumente ruhen. 

Wir haben uns dafür entschieden, das Buch in vier Kapiteln abzufassen. Für jedes Kapitel trägt eine Vertreterin bzw. ein Vertreter des entsprechenden Faches die Verantwortung, er oder sie ist Autor bzw. Autorin. Wir vier haben unterschiedliche sprachliche Stile, diese Unterschiede wollten wir nicht glätten. Dieses Buch ist eine Zusammenkunft, soll andere Menschen zum Mitdenken und Zusammenkommen einladen und darum werden Unterschiede als etwas Natürliches betrachtet und dürfen existieren. Trotzdem haben wir über unsere Kapitel natürlich einen regen Austausch gepflegt, uns gegenseitig auf Verständnisschwierigkeiten und auf Vertiefungswünsche hingewiesen. Wir haben versucht, dem Buch eine Gesamtgestalt zu geben und eine gute Architektur zu entwickeln. Die Kapitel sind jetzt so gegliedert, dass sie in der Theorie beginnen, zur Psychologie übergehen, dann die neurobiologischen Grundlagen darstellen und in die Körperpraxis münden. Wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, sich so verhalten, wie es uns vorschwebt, müssten sie beim Körperpraxis-Kapitel so überzeugt sein von der elementaren Kraft des Körpers, dass sie freiwillig und hoch motiviert den Lesesessel verlassen und mit der Anleitung in der Hand den aufrechten Stand üben. Denn ein Körperbuch, das nur in der Gedankenwelt bleibt, würde einmal mehr das tun, was wir ja gerade ändern wollen, es würde nicht körpergerecht in die Anwendung gehen und den Körper über dem Lesen wieder einmal vergessen. Jedes Kapitel ist aber auch eine in sich abgeschlossene Einheit und kann darum auch je nach Interessenslage für sich alleine gelesen werden. Diese Art der Gliederung war es, die uns nach der Prüfung von vielen Varianten am sinnvollsten erschien.

Dieses Buch bleibt ein Wagnis. Aber wir wissen, worauf wir uns einlassen und wir haben uns bemüht, einen guten Weg einzuschlagen. Wenn unser Wagnis zur Folge hat, dass unsere Leserinnen und Leser auch wagemutig werden und vier verschiedene Kapitel aus vier verschiedenen Perspektiven in vier verschiedenen Sprachstilen und Begriffssystemen lesen, körperliches Neuland betreten und vielleicht sogar Vergnügen dabei haben, dann sind wir zufrieden und unser Mut hat sich gelohnt.


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