3. Herbstakademie
"Selbstorganisation in Psychologie und Psychiatrie
- Empirische Zugänge zu einer psychologischen Synergetik"


Einige Infos zur Tagung

list of participants



Universität Bern
4.-7. Oktober 1993

Veranstalter:
Dr. Wolfgang Tschacher (Bern)
PD Dr. Günter Schiepek (Münster), Prof. Dr. Ewald Johannes Brunner (Tübingen)
in Zusammenarbeit mit:
Prof. Dr. Hermann Haken (Stuttgart)

Ort der Veranstaltung:
Sozialpsychiatrische Universitätsklinik Bern
Murtenstrasse 21
CH-3010 Bern
Hörsaal Stockwerk F


Aus dem Programmheft:

Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer,

mit diesem Programmheft wollen wir Ihnen Gelegenheit geben, sich auf die Themen der Herbstakademie einzustellen und einzustimmen. Auf den folgenden Seiten finden Sie einen Programmüberblick, die Abstracts der Referenten und Referentinnen sowie ihre Anschriften.

Die Herbstakademie findet in diesem Jahr zum dritten Mal statt, wobei sich die inhaltliche Ausrichtung auf Fragen der Selbstorganisation in Psychologie und Psychiatrie nicht verändert hat. Systemisches Denken und Forschen hat sich zunehmend nicht nur in der Klinischen Psychologie (wo in Gestalt der Familien- oder Systemtherapie für uns Veranstalter alles begann) als fruchtbare Perspektive erwiesen, sondern findet mittlerweile in sehr unterschiedlichen Teildisziplinen der Psychologie und Psychiatrie Anwendung. Dabei betont die Herbstakademie "traditionell" die empirisch gangbaren Wege zu den jeweiligen Systemen und Phänomenen: neben die epistemologische und theoretische Auseinandersetzung über Selbstorganisation und Chaos in den Humanwissenschaften sollen operationale Ansätze treten, wie sie die Synergetik und die Theorie dynamischer Systeme bereithalten.

Wir wollen am Montag mit der Darstellung der Synergetik und darauf bezogenen philosophischen Themen beginnen. Die Gruppe eher klinisch-psychologischer Beiträge (von ausgeprägt methodologischer bis zu praxisnaher Ausrichtung) haben wir im Anschluss plaziert. Am Dienstag beginnt dann ein Block mit Vorträgen, die sich Fragestellungen aus dem Bereich der Psychiatrie widmen. Am Mittwochnachmittag werden soziale Systeme aus der Perspektive der Selbstorganisation beleuchtet. Den Abschluss bildet am Donnerstag eine Reihe von Referaten mit physiologisch-biologischer Orientierung.

Es würde uns freuen, wenn die vielfältigen Themen wieder eine diskussionsfreudige und produktive Stimmung entstehen lassen. Möge Ihr Chaos kreativ sein! Wir wünschen Ihnen eine gute Anreise und freuen uns auf das Treffen in Bern -

Mit besten Grüssen

Die Veranstalter


Vorträge:

Montag, 4.10.1993
(Moderation: L. Ciompi)


Wolfgang Tschacher:
Begrüssung

Hermann Haken:
KONZEPTE DER SYNERGETIK FUER DIE PSYCHOLOGIE

Klaus Mainzer:
SELFORGANIZATION AND SYNERGETICS IN THE PHILOSOPHY OF
MIND

Marie-Luise Heuser-Kessler:
DIE NACHTSEITE DES BEWUSSTSEINS. KONZEPTE KOGNITIVER SELBSTORGANISATION IM FRUEHEN 19. JAHRHUNDERT

Christian Scheier:
PSYCHOLOGISCHE FORSCHUNG UND THEORIE DYNAMISCHER SYSTEME: NEUE ANSAETZE

Bernd Götz und Christian Scheier:
DATENVERWALTUNG UND ALGORITHMEN IN DER CHAOSTHEORETISCHEN ZEITREIHENANALYSE

Walter Schwertl:
SPONTANE KONGRUENZ VON PAAREN - DIE NICHTNUTZBARMACHUNG DER SELBSTORGANISATION VON PAARBILDUNGEN FUER THERAPEUTISCHE INTERVENTIONEN

Ludwig Reiter:
IDEE, IDEOLOGIE UND WIRKLICHKEIT IN DER SYSTEMISCHEN THERAPIE: VOM REFEKTIERENDEN TEAM ZUM FOKUSSIERENDEN TEAM



Dienstag, 5.10.1993
(Moderation: H. Haken)


Henri Schneider, Markus Fäh-Barwinski und Rosmarie Barwinski Fäh:
UEBERLEGUNGEN ZU EINER VORGEHENSWEISE FUER DAS UNTERSUCHEN LANGFRISTIGER PROZESSE DER VERAENDERUNG IN PSYCHOTHERAPIEN

Philippos Vanger, Robert Hönlinger und Hermann Haken:
AUTOMATISIERTE KODIERUNG DES EMOTIONSAUSDRUCKS IM GESICHT MIT DEM SYNERGETISCHEN COMPUTER

Günter Schiepek:
DIE THERAPEUTISCHE BEZIEHUNGSGESTALTUNG: EIN CHAOTISCHER PROZESS

Luc Ciompi
DIE PSYCHE ALS DYNAMISCHES SYSTEM AUS DER SICHT DER AFFEKTLOGIK

Jean-Pierre Dauwalder, Evelyn Thommen, V. Pomini, Marc Bersier und Philippe Lemay:
UMWELT UND VERHALTEN: EINE FRAGE DER TOLERANZ/INTOLERANZ?

Wolfgang Tschacher:
NICHTLINEARIÄT UND PSYCHOSOZIALE KRISEN

Zum Abschluss des Nachmittags als "Divertimento":
Ludwig Reiter:
"SYNERGETIK UND SELBSTORGANISATION IN DER KLINISCHEN PSYCHOLOGIE UND PSYCHIATRIE: EIN WISSENSCHAFTLICHES FELD FORMIERT SICH"

am Abend: Stadtrundfahrt und Aperitif im Tram-Sonderwagen; anschliessend in ein Altstadt-Restaurant



Mittwoch, 6.10.1993
(Moderation: G. Schiepek)


Brigitte Ambühl und Rudolf M. Dünki:
CHAOSTHEORETISCHE ANSAETZE IN DER SCHIZOPHRENIEFORSCHUNG, EINZELFALLANALYSEN UND METHODENDISKUSSION

Peter Kruse, H.-O. Carmesin und Michael Stadler:
STABILISIERUNG ADAPTIVER DYNAMIK DURCH BEWERTUNG: SCHIZOPHRENIE ALS KORRESPONDENZPROBLEM PLASTISCHER NEURONALER NETZWERKE?

Holger Hoffmann, Zeno Kupper und Jean-Pierre Dauwalder:
REHABILITATIONSVERLÄUFE BEI CHRONISCH PSYCHISCH KRANKEN: ERGEBNISSE VON ZEITREIHENANALYSEN UND IHRE KLINISCHE RELEVANZ

Zeno Kupper, Christian Scheier, Jean-Pierre Dauwalder und Holger Hoffmann:
SYSTEMTHEORETISCHE MODELLE DER REHABILITAION CHRONISCH PSYCHISCH KRANKER: SIMULATION UND ZEITREIHENANALYSE

Rene te Boekhorst und Pauline Hogeweg:
MALE GROUPING OF "CHIMPS" AS A SIDE EFFECT OF FORAGING AND MATE SEARCHING IN AN "ARTIFICIAL WORLD"

Theo Gehm:
ZWISCHEN ICH UND WIR. GRUPPENBILDUNG ALS ZOEGERNDER AGGREGATZUSTANDS-WECHSEL

Nicole J. Saam:
SELBSTORGANISATION IN DER POLITIK - EIN SYNERGETISCHES SIMULATIONSMODELL MILITAERISCHER INTERVENTIONEN IN DIE POLITIK

Ewald Johannes Brunner und Wolfgang Tschacher:
VERÄNDERUNGSPROZESSE IN PAARBEZIEHUNGEN - EINE EMPIRISCHE STUDIE AUS DER SICHT DER SELBSTORGANISATIONSTHEORIE

Postersession am Mittwochnachmittag:

Elisabeth Aebi, Christian Scheier, Zeno Kupper und Klaus Ackermann:
Poster: PSYCHOTISCHE VERLAUFSDYNAMIK IN INTERAKTION MIT SPEZIFISCHEN MERKMALEN DES BEHANDLUNGSMILIEUS

Andreas Manteufel, Günter Schiepek und Michael Reicherts:
Poster: SELBSTORGANISATION IN SOZIALEN SYSTEMEN - DAS SYSTEMSPIEL ALS EMPIRISCHER ZUGANG ZU EINER "(SOZIAL)PSYCHOLOGISCHEN SYNERGETIK"

Günter Schiepek, Wolfgang Schoppek und Brigitte Ambühl:
Poster: SIMULATION UND EMPIRIEBEZUG EINES PSYCHOPATHOLOGISCHEN PROZESSES

Wolfgang Tschacher, Elisabeth Aebi und Christian Scheier:
Poster: IST SCHIZOPHRENIE CHAOTISCH?

Wolfgang Tschacher und Elisabeth Aebi:
Poster: SOZIOPHYSIOLOGIE: INDIKATOREN FÜR SYNERGETISCHE EFFEKTE



Donnerstag, 7.10.1993
(Moderation: W. Tschacher)


Christian K.H. Reyher:
PRINZIPIEN DER ORGANISATION DES OLFACTO-LIMBISCHEN SYSTEMS

Christof Nachtigall:
SELBSTORGANISATION IM VISUELLEN SYSTEM: MATCHED-FILTER BEI DER SIGNALENTDECKUNG

Gary B. Schmid, Martha Koukkou-Lehmann und Dieter Lehmann:
CHAOS-ANALYSE VON EEG-VERLAEUFEN BEI PSYCHOTISCHEN UND REMITTIERTEN ZUSTANDSBILDERN

Peter Langhorst und M. Lambertz:
DYNAMIK DER SELBSTORGANISATION NERVOESER STRUKTUREN FUER DIE GEMEINSAME REGULATION VON KREISLAUF, ATMUNG, MOTORIK UND VIGILANZ

Ende der Tagung und gemeinsamer Ausflug ins Schwellenmätteli



Hier noch ein etwas journalistisch geratener TAGUNGSBERICHT:

"Selbstorganisation in Psychologie und Psychiatrie - Empirische Zugänge zu einer psychologischen Synergetik"

Dritte Herbstakademie vom 4. bis 7. Oktober 1993 in Bern

Was haben die Synergetik (die Lehre vom Zusammenwirken) und die Chaostheorie (die Lehre vom Schmetterlingseffekt) mit psychosozialen Krisen, schizophrenen Verläufen, dem Sexualverhalten computergenerierter männlicher Schimpansen ("chimps") oder gar Militärinterventionen in Thailand zu tun?
Wem dazu nicht mehr einfällt als das alltägliche Chaos an seinem Arbeitsplatz, dem sei schon jetzt die vierte Herbstakademie "Selbstorganisation in Psychologie und Psychiatrie" anempfohlen, die in der ersten Oktoberwoche 1994 an der Universität Münster/Westf. stattfinden wird. Zur dritten Veranstaltung unter dem genannten Motto luden Wolfgang Tschacher (zusammen mit Günter Schiepek und Ewald J. Brunner als Veranstalter) und Luc Ciompi (als "Hausherr") in die Sozialpsychiatrische Universitätsklinik in Bern. Auf dem Programm stand, wie bereits 1990 und 1991, zum einen der Austausch über aktuelle Forschungsprojekte, in denen der Versuch unternommen wird, die Modellvorstellungen über selbstorganisierte Dynamiken in. komplexen Systemen in psychologischen und psychiatrischen Zusammenhängen gewinnbringend anzuwenden. Zum anderen gehört es zum Konzept der Herbstakademien, "alte Haudegen" der Selbstorganisationsforschung mit dem in vielen natur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen engagierten Nachwuchs und nicht zuletzt mit Praktikern aus psychosozialen Arbeitsfeldern zusammenzuführen. Für informellen Austausch ist dabei ausreichend gesorgt, denn dabei entstehen ja bekanntlich die Ideen, die die Welt verändern. Diskutiert wurden neben inhaltlichen Fragen vor allem die Methoden, mit denen versucht wird, sich hochkomplexen und chaosfähigen Systemen in den verschiedenen Anwendungsbereichen anzunähern. Computersimulationen haben dabei einen zentralen Stellenwert eingenommen. Vorgestellt wurden auch die neuesten Entwicklungen auf dem Markt der "Chaosanalysen". Zur Freude einiger Nostalgiker kommen aber immer noch "traditionelle" Methoden wie uni- und multivariate Zeitreihenanalysen zum Einsatz. Aus langen Diskussionen schälte sich folgendes Dilemma heraus: Quantitative Aussagen aber das Ausmass von deterministischem Chaos werden ja bekanntlich von unserem liebgewordenen "idiot sauvant", dem Computer, über anspruchvollste mathematische Algorithmen gemacht. Das setzt "harte" Daten voraus. In den Sozialwissenschaften und in der Psychiatrie kann die Härte von Daten aber nur zu Lasten ihrer inhaltlichen Nähe erreicht werden.
Trotz aller methodischer Probleme (und es ist ja wichtig, dass diese sorgfältig diskutiert werden) ist das Modell der Selbstorganisation für soziale Systeme unmittelbar plausibel und mehrere Beiträge legten davon Zeugnis ab, dass auch therapeutische Praktiker ihr Tun in diesem Beschreibungsmodell ohne Mühe wiederfinden. Beispielhaft für praxisrelevante Forschung wurde die Untersuchung von Rehabilitationsverläufen bei chronisch psychisch Kranken vorgestellt.
Der Weg von der Metaphorik zur Empirie ist steinig und er führte nun auch über Bern. Zurück bleibt die Hoffnung, dass die dort vorgestellten Projekte Dynamik in die interdisziplinäre Erforschung komplexer Systeme bringen.

(Anschrift des Verfassers: Andreas Manteufel, Dipl.-Psych., Sprachwissenschaftler M.A., Noeggerathstr. 24, 53111 Bonn.)


erschienen in: A. Manteufel (1994). Familiendynamik.

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