2. Herbstakademie "Selbstorganisation und Klinische Psychologie"
Universität Bamberg, 30. September bis 3. Oktober 1991

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Tagungsbericht:


Die Herbstakademie ist als eine fortlaufende Reihe von Symposien konzipiert, die sich der theoretischen Fundierung und empirischen Umsetzung systemischen Denkens in der Klinischen Psychologie widmen.
Günter Schiepek (Bamberg), Wolfgang Tschacher und Ewald Johannes Brunner (Tübingen) veranstalteten in Kooperation mit dem Physiker und Begründer der Synergetik, Hermann Haken (Stuttgart), nun bereits das zweite Symposion mit dem programmatischen Untertitel "Empirische Zugänge zu einer psychologischen Synergetik". Im Mittelpunkt standen insbesondere die Möglichkeiten einer Methodologie zur Untersuchung komplexer dynamischer Systeme. Anknüpfend an das Vorjahr wurde damit die Erschliessung der vielfältigen psychosozialen Gegenstandsbereiche mit den Mitteln der Synergetik weitergeführt.
Nach einem Grusswort des Präsidenten der Universität Bamberg legten Günter Schiepek und Wolfgang Tschacher in einem Übersichtsreferat dar, dass selbstorganisierte Systeme in vielfältiger Weise für die klinische Psychologie relevant sind; nicht nur Familien- und Therapiesysteme können synergetisch modelliert werden, sondern etwa auch Prozesse der Musterbildung und -erkennung in der klinischen Urteilsbildung. Arne Wunderlin (Stuttgart) führte darauf in die Grundlagen der Synergetik ein. Luc Ciompi (Bern) leitete mit seinen Ausführungen einen Block mit Referaten zur Bedeutung des chaostheoretischen Ansatzes in der Psychoseforschung ein, wobei er die Schizophrenie als dissipative Struktur auffasste; Ziel werde es sein, alle Phänomenbereiche der Schizophrenie (sozial, neurobiologisch, kognitiv-affektiv) zu formalisieren und deren Kopplung durch Mediatoren zu simulieren. Rudolf Dünki (Zürich) stellte anhand empirischer Zeitreihen von Schizophrenieverläufen Überlegungen darüber an, welche Kriterien Aussagen über die Verlässlichkeit von Dimensionsanalysen zulassen. G.B. Schmid, M. Koukkou und D. Lehmann (Zürich) befassten sich ebenfalls mit der Bedeutung der Chaostheorie für eine Charakterisierung der Schizophrenie als dynamische Krankheit. Hierzu wurden statistische Ergebnisse zu EEG-Dimensionalitätsunterschieden zwischen Psychose und Remission berichtet. Eine eingehende Analyse (fraktale Dimensionen und Entropiemasse) zweier Langzeitverläufe psychotischer Symptomeinschätzungen stellte Brigitte Ambühl (Soteria Bern) vor. Den Schweizer Block schlossen Hans-Peter Dauwalder, H. Hoffmann und Z. Kupper (Lausanne, Bern) mit ökologisch-dynamischen Ansätzen bei der Rehabilitation chronischer Psychiatrie-Patienten (PASS-Projekt) ab. Es wurde vorgeschlagen, das Chronizitäts-Syndrom mit Hilfe einer binären Kinetik zu simulieren. Ein weiterer methodologischer Vortrag kam von Klaus Ackermann, Dirk Revenstorf und Hansjörg Ebell (Tübingen und München) zur ARIMA-Zeitreihenanalyse. Harald Schaub (Bamberg) trug vor, wie die individuelle Handlungsorganisation an Computersimulationen erhoben werden kann.
Eine Reihe von Beiträgen widmeten sich Fragen der Psychotherapie-Theorie und der systemischen Praxis. Der Beitrag von Peter Kruse, Michael Stadler, S. Klingenberg, M. Mayer zu Altenschildesche und W. Eberling (Bremen) befasste sich mit Selbstreferenz und kognitiver Selbstorganisation, insbesondere mit der Messung und Induktion von Instabilität als einer Voraussetzung für Phasenübergänge in Therapie. Als Anwendung wurde die Interaktion zwischen individueller Wirklichkeitskonstruktion und dem Verlauf von HIV-Infektionen diskutiert. Ferdinand Wolf und Sabine Klar (Wien) verknüpften in ihrem Vortrag evolutionäre Erkenntnistheorie und systemische Therapieansätze. Wolfgang Loth (Bergisch-Gladbach) befasste sich mit der Ökologie von Problem-(Lösungs)Systemen. Eva Maria Schepers referierte ein Manuskript des erkrankten Gerd Portele (Hamburg) über den "mittleren Modus", eine in manchen Sprachen mögliche Verbform zwischen Aktiv und Passiv. Eine angesichts selbstorganisierender Systeme geeignete therapeutische Haltung entspreche diesem Modus (wuwei: "das Nicht-tun tun"). Jürgen Kriz (Osnabrück) bezeichnete problematische Kommunikationsmuster in Familien als Attraktoren, die es zu verstehen gelte; darauf aufbauend befasste er sich mit der Frage, was Fraktalität angewandt auf Therapie bedeute. Günter Schiepek stellte anschliessend im Rahmen einer Synergetik der Psychotherapie dar, wie therapeutische Phasenübergänge mit den Konzepten des Lifestyle-Szenarios und des state of mind-Ansatzes (Horowitz) modelliert werden können. Anschliessend demonstrierten Ulrike Hess, Monika Köhler, Robert Mayer, Klaus Richter, Günter Schiepek und Astrid Schütz (Bamberg) die Anwendung der "sequentiellen Plananalyse" am Beispiel einer Filmszene von Loriot. Karl-Heinz Renner und Sonja Heininger (Bamberg) beschrieben den Einsatz der Methode des Selfmodelling bei Redeangst. Bernd Nissen (Berlin) ordnete gruppentherapeutische Prozesse im Rahmen des Interpenetrationsbegriffs ein.
Weitere Vorträge wandten sich der Anwendung synergetischer und systemischer Konzepte in anderen Arbeitsfeldern des psychosozialen Bereichs zu. Ewald-Johannes Brunner und Wolfgang Tschacher referierten über das Spannungsverhältnis von (betrieblicher) Organisation und Selbstorganisation. Michael Reicherts (Fribourg) und Günter Schiepek stellten das Systemspiel als eine Methode zur Beobachtung von Interaktionsmustern und Stressverarbeitung in komplexen sozialen Systemen vor. Karl Toifl (Wien) sprach zur ganzheitlichen systemischen Arbeit auf einer kinderpsychiatrischen Station. Olaf Hauer und Jürgen Fabian (Jena) demonstrierten sozialpsychologische Prozessberatung anhand einer Fallstudie. Heinz Karlusch und Erwin Rössler (Wien) erläuterten ihr Konzept der "Sozioanimation" zur Anregung synergetischer Prozesse in sozialen Systemen. Ein humorvoller und beziehungsreicher Vortrag, der das Wissenschaftssystem selbst reflektierte, kam von Ludwig Reiter, U. Werner und Egbert Steiner (Wien): Warum verhalten sich Wissenschaftler nach dem Lotkaschen Gesetz? Hermann Haken gab einen Überblick zu den Anwendungen der Synergetik in der Psychologie; ausgehend von den Beispielen der Gestaltwahrnehmung und des synergetischen Computers wandte er sich der Frage zu, wie komplexe Phänomene in der Psychologie allgemein einer modellmässigen Behandlung zugänglich werden.
Neben den Referaten und der an sie anknüpfenden Diskussion (der in der Herbstakademie grosse Bedeutung zugemessen wird) waren Poster angeboten: Regina E. Maiworm und W. Langthaler (Münster) informierten über Forschungen zur menschlichen Geruchskommunikation mit Pheromonen. Wolfgang Tschacher, Klaus Ackermann, Arno Steitz und Dirk Revenstorf (Tübingen) präsentierten Modellrechnungen zur Anwendbarkeit der chaostheoretischen Dimensionsanalyse bei psychologischen Datensätzen.
Vom vielfältigen Rahmenprogramm der Tagung sollen hier nur die Ausstellung "Strukturen" des Malers M. Oswald und der Empfang durch den Oberbürgermeister im historischen Rathaus genannt werden. Die Teilnehmenden des Symposions waren von der Gastfreundschaft und Grosszügigkeit der Stadt und Universität Bamberg sehr angetan; beiden ist auch für ihre finanzielle Unterstützung des Symposions zu danken.
Die positive Annahme der Herbstakademie zeigt deutlich, dass die synergetischen und dynamischen Ansätze in den Humanwissenschaften sich zu einem eigenen interdisziplinär geprägten Feld zu formen beginnen. Aus diesem Grund initiierten die Veranstalter am Ende der Tagung eine Strategiediskussion. Eine informelle "Arbeitsgemeinschaft zur Synergetik in den Humanwissenschaften" wurde geschaffen, die gewissermassen einen kognitiven Rahmen bilden wird, in dem sich (neben der Herbstakademie und den bestehenden Zeitschriften "Systeme" und "System Familie") weitere Strukturen entwickeln können. So wird etwa demnächst eine "Projektdatenbank" in Bremen entstehen, die Informationen über Projekte in unserem Feld bündeln kann.

Erschienen in: W. Tschacher (1992). System Familie, 5, S. 63-65.

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