Einleitung

Als Einführung in die Thematik will ich zuerst begründen, was neu und notwendig an der dynamischen Perspektive in der Psychologie ist: die Zeit, die Prozesshaftigkeit psychologischer Sachverhalte kommt zu ihrem Recht.

Wer aber würde bezweifeln wollen, dass es in der klinischen Psychologie praktisch immer um Prozesse geht? Ob man von "Verhalten" spricht, oder von "Übertragung", oder von "Selbstaktualisierung", im Zentrum steht doch immer eine Veränderung. Was also soll neu an einer dynamischen Perspektive sein - hat man das nicht alles schon gehabt?
Ja und nein.
Ja, klar: die Theorie ist willig, und thematisiert vor allem die Veränderungen, die durch ihre Anwendung eintreten sollen.
Ja, sowieso: auch die Praktiker* im Feld beschäftigen sich zentral mit Neulernen, Umdenken, Restrukturieren und Anders-Machen...
und doch nein: die Methodik der klinischen Psychologie ist tiefgreifend statisch geblieben; die wissenschaftliche Behandlung hinkt der Praxis hinterher mit ihren Mittelwertsvergleichen. Therapeuten behandeln ja schliesslich keine Mittelwerte oder Varianzen, sondern behandeln Individuen und Systeme. Therapeuten behandeln Verhalten.

Aus dieser Motivation heraus sollen bestehende Möglichkeiten besprochen werden, wie man Prozesse beschreiben und untersuchen kann. Dabei geht es um Methoden zur Darstellung von Verläufen (Zeitreihen, Trajektorien), und um ihre "Einbettung" in Räumen von Freiheitsgraden (Phasenraum, Dimensionalität). Es geht insgesamt um eine allgemeine Sprache, in der man sich, falls nötig auch wissenschaftlich, über Prozesse unterhalten kann. Diese Sprache nennt man Theorie dynamischer Systeme ( Abraham and Shaw, 1992).

Panta rhei? Nichts ist sicher, ausser dass es sich ändert? Die rationalen Skeptiker, falls es die noch gibt, werden eine solche Auffassung als postmoderne Beliebigkeit geisseln, und Recht haben sie, finde ich.

Deshalb besteht die zweite Stufe des dynamischen Programms darin, Strukturen in den Prozessen zu identifizieren. Wenn man das so nennen will, geht es um "Prozessgestalten". Der Begriff gefällt mir, ich gebe es zu (Tschacher, 1997). Das Vokabular der Theorie dynamischer Systeme nennt solche Strukturen "Attraktoren" (Kriz, 1997). Attraktoren sind Invarianten in Prozessen, analog so wie Mittelwerte Invarianten in den Blitzlichtaufnahmen der die Psychologie beherrschenden Querschnittsanalysen sind. Ein Attraktor ist, worauf ein Prozess hinläuft, er beschreibt die invariante Ordnung, die dem Prozess zukommt. Manchmal ist diese Ordnung so kompliziert, verknäuelt, verdrillt, dass man sie nie und nimmer als Ordnung oder Invarianz erkennen würde. Wenn man trotz aller Verknäuelung und Fraktalität einen Attraktor findet, nennt man ihn halt "chaotisch" (Rössler, 1976).

Die dritte Stufe des dynamischen Programms entsteht bei der Untersuchung von Komplexität. Wenn in komplexen Sachverhalten plötzlich Attraktoren auftauchen, und man versteht nicht warum, nennt man ein solches Phänomen Selbstorganisation oder Musterbildung (pattern formation). Die Synergetik (Haken und Wunderlin, 1991) ist ein Forschungsprogramm, das solchen Vorgängen gewidmet ist. Prigogine untersucht Musterbildungsprozesse im Rahmen einer nichtlinearen Thermodynamik, als Theorie dissipativer Systeme (Nicolis und Prigogine, 1986). Der Chemiker Prigogine hat für seine Behandlung dissipativer Systeme 1977 den Nobelpreis erhalten, der Physiker Haken nicht, aber auch keiner der Gestalttheoriker, die genau solche Musterbildungsprozesse bereits zu Beginn des Jahrhunderts beschrieben. Wertheimer, Köhler, Koffka, Lewin und andere hatten eben eher die Psychologie im Blick, wo Gestaltbildung eigentlich keine Sensation war. Trotzdem wurde die Gestaltpsychologie dann bald als zu unwissenschaftlich bzw. unbehavioristisch bzw. unamerikanisch in die Requisiten verbannt. Heute beginnt man die Relevanz der Gestalttheorie als einer Selbstorganisationstheorie wieder zu sehen (Stadler und Kruse, 1990). Damit ist die Bestimmung des Begriffs "Prozessgestalt" komplett: ein durch Selbstorganisation in einem komplexen System entstandener Attraktor.

Nichts ist jemals ganz komplett, wenn man Dynamik ernst nimmt... die dann folgenden Schritte betreffen Prozessgestalten, die ihre eigene Entstehung beeinflussen: "Endosysteme" (s. zB Atmanspacher & Dalenoort, 1994).

*ich benutze im Folgenden die männliche Form und meine doch beide: Frauen und Männer.


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